Seite 1"Es gibt ein Netzwerk der Superreichen, das wie die Tentakel des Kremls fungiert"
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"Putins Netz" ist der bislang fundierteste Bericht über das Innenleben des Kremls. Das Buch zeichnet Wladimir Putin als KGB-Mafiaboss, der offensichtlich Terroranschläge fingiert und Kriege anzettelt, um sich den Rückhalt der Bevölkerung zu sichern, der milliardenschwere Oligarchen herumkommandiert, als wären sie seine Capos, und gigantische Mengen von Schwarzgeld verschiebt, um die westlichen Demokratien zu destabilisieren. Die Autorin, die britische Investigativjournalistin Catherine Belton, arbeitet derzeit für die "Washington Post". Sie berichtete 1998 erstmals aus Moskau und wurde später Auslandskorrespondentin für die "Financial Times". Nach der Veröffentlichung ihres Buches wurde Belton im vergangenen Jahr von dem russischen Mineralölunternehmen Rosneft und vier Oligarchen verklagt – darunter auch Roman Abramowitsch, damals noch Eigentümer des Fußballvereins FC Chelsea. Das folgende Interview wurde zum besseren Verständnis redigiert und leicht gekürzt.
Das Dossier der neuen ZEIT portraitiert den russischen Oligarchen und Putinfreund Oleg Deripaska.
ZEIT ONLINE: Wenn man Ihr Buch liest, gewinnt man den Eindruck, dass wir alle den Krieg in der Ukraine hätten kommen sehen müssen, dass er unvermeidlich war. Trotzdem haben nicht einmal Sie selbst damit gerechnet. Warum nicht?
Catherine Belton: Putin hat viele überrascht, die sich ausgiebig mit seiner Person beschäftigt haben. Er hat sogar seine engsten Vertrauten überrascht – angefangen bei der Wirtschaftselite, über die Chefin der russischen Zentralbank bis hin zum Finanzministerium. Noch drei Tage vor dem Einmarsch hatten selbst die mobilmachenden Soldaten keine Ahnung, was das eigentliche Ziel dieser angeblichen Truppenübung war.
Dass er mit der Ukraine auch so verfahren würde, war unvorstellbar.Catherine Belton
ZON: Wie ist das möglich?
Belton: Putin gab stets den kühlen Pragmatiker. Zugegeben, er hat immer mal wieder seine Grenzen ausgetestet. Aber eine gewisse Legitimität seines politischen Handelns und die Anerkennung der internationalen Staatengemeinschaft waren ihm doch wichtig, um seinen Einfluss im Ausland aufrechtzuerhalten und dieses Netzwerk von Fürsprechern für sich zu erhalten. Wie hätte man damit rechnen sollen, dass er sich nun plötzlich die Maske vom Gesicht reißt, in die er 20 Jahre lang so viel Arbeit gesteckt hat, und in ein Land einmarschiert, das direkt vor der Haustür der EU liegt? Sicher, es gab die Bombardierungen in Tschetschenien und Syrien. Die hat der Westen ihm durchgehen lassen und die Augen verschlossen vor den Todesopfern und den zerstörten Städten dort. Aber dass er mit der Ukraine auch so verfahren würde, war unvorstellbar. Die Gefahr einer Invasion bestand ja 2014, als Russland die Halbinsel Krim militärisch für sich beanspruchte und 150.000 Soldaten an der Grenze zur Ukraine zusammenzog, schon einmal. Damals sagten seine Berater: "Nein, die Antwort des Westens wird zu stark sein, die Wirtschaft wird die Sanktionen nicht aushalten, Sie haben nicht die Unterstützung in der Ukraine und es wird auch in Russland nicht populär sein." Dieses Mal hingegen war Putin offenbar überzeugt davon, das abwettern zu können, warum auch immer.
ZON: Und wettert er es nicht ab? Trotz der massiven westlichen Sanktionen scheint das Alltagsleben in Russland eher ungestört weiterzugehen. Die Regale in den Supermärkten sind voll, das lokale Kreditkartensystem funktioniert und der Rubel ist so stark wie seit Langem nicht mehr.
Catherine Belton hat mit ihrem 2020 erschienenen Buch "Putins Netz" ein Standardwerk über Russlands Machthaber verfasst. © Phil Dera für ZEIT ONLINEBelton: Der Finanzblock Russlands hat schnell reagiert und Kapitalkontrollen zur Stützung der Landeswährung eingeführt, obwohl er auf so umfassende Sanktionen nicht vorbereitet war. Bis sie die Wirtschaft in voller Härte treffen, werden wohl noch ein paar Monate vergehen. Im Herbst dürften sich aber die Lager mit westlichen Gütern weitgehend geleert haben. Elwira Nabiullina, Russlands Zentralbankchefin, hat Putin aufgezeigt, welche Gefahren mit den Sanktionen verbunden sind. Das Schlimmste komme noch: 90 Prozent der Fabriken im Land sind auf Teile aus dem Westen angewiesen. Der russischen Wirtschaft steht die schwerste Rezession seit 30 Jahren bevor. Dennoch kann man sie nicht in die Knie zwingen, weil die Energiepreise seit Beginn des Krieges steigen. Russland nimmt täglich so etwa eine Milliarde Dollar durch Energieexporte nach Europa ein. Der Westen sollte seine Sanktionen also klüger wählen. Derzeit wird etwa eine Preisobergrenze für russisches Öl und Gas diskutiert. Das würde den Preisdruck, der auf den westlichen Volkswirtschaften lastet, erheblich verringern und dem Kreml eine wichtige Einnahmequelle entziehen. Ich hoffe sehr, dass sich in dieser Hinsicht bald etwas bewegt.
ZON: In der russischen Bevölkerung genießt Putin mit seiner riskanten Politik immer noch beträchtliches Ansehen. In Ihrem Buch beschreiben Sie diesen Zuspruch als ein historisches Muster in Krisenzeiten – um Putin als starken Mann zu inszenieren und die Bevölkerung hinter dem damaligen Premier zu versammeln, sollen seine KGB-Leute sogar Terroranschläge organisiert haben. Träumen manche Russen noch vom sowjetischen Imperium?
Putin hat von Anfang an dem unipolaren Modell der Weltordnung den Kampf angesagt.Catherine Belton
Belton: Imperialen Träumen geben sich vermutlich alle untergegangenen Weltmächte hin. Auch der Brexit ist ja das Resultat imperialer Nostalgie. Seine politischen Befürworter verbanden ihn mit dem Versprechen neu erstarkter Beziehungen zum Commonwealth, und ein nicht unbeträchtlicher Teil der Bevölkerung hat das geglaubt. Ich fürchte, diese Sehnsucht nach den guten alten Zeiten gibt es in allen untergegangenen Imperien. In der Sowjetunion kam der Zerfall so plötzlich und unerwartet, dass es kein Wunder ist, wenn der Bedeutungsverlust auch heute noch nachwirkt. Putin hat von Anfang an dem unipolaren Modell der Weltordnung den Kampf angesagt, in dem die USA die alleinige Führungsmacht sind und allen die Bedingungen diktieren. Aber um auf Ihre Frage zu den Terroranschlägen zurückzukommen: Ich bin mir nicht sicher, ob Putin selbst dahintersteckte, vielleicht waren es auch Leute aus seinem engsten Kreis, Hardliner wie Nikolai Patruschew …
ZON: … heute der mächtige Sekretär des Sicherheitsrates …
Belton: … die zweifellos bei einigen der dunkelsten Machenschaften des Kremls ihre Hände mit im Spiel gehabt haben. In Russland hat das eine jahrhundertelange Tradition, auch die sowjetische Geheimpolizei Tscheka war in die schlimmsten Terroranschläge verwickelt, schreckte vor keiner Gräueltat zurück, wenn es um die Eroberung oder den Erhalt von Macht ging. Das ist bei Putins Geheimdienst nicht anders. Trotzdem hat jahrelang niemand recht daran glauben wollen, dass der FSB, eine Nachfolgeorganisation des KGB, in die Serie von Sprengstoffanschlägen auf Wohnhäuser verwickelt war, die halfen, Putin an die Macht zu bringen – obwohl es deutliche Hinweise darauf gab. Die Anschläge haben Hunderte von Menschen im Schlaf getötet und Putin einen Vorwand für den zweiten Tschetschenienkrieg geliefert. Dieser Krieg wiederum hat den farblosen Bürokraten, dessen Name gerade einmal fünf Prozent der russischen Bevölkerung ein Begriff war, zum Nationalhelden gemacht. Der FSB unterstand damals Patruschew.
ZON: Viele Russen scheint das aber nicht besonders interessiert zu haben. Woran liegt das?
Die sowjetische Geheimpolizei Tscheka war in die schlimmsten Terroranschläge verwickelt, schreckte vor keiner Gräueltat zurück, wenn es um die Eroberung oder den Erhalt von Macht gingCatherine Belton
Belton: Nach Putins Machtantritt stieg der Ölpreis und in der Folge auch der Lebensstandard vieler Menschen in Russland beträchtlich an, dafür waren sie dankbar. Tatsächlich war das nicht Putins Erfolg, sondern hatte andere Gründe. Anders ist es mit der Stabilität im Land, die sich in gewisser Weise tatsächlich seinem politischen Führungsstil verdankt, der alle Schalter der Macht in seinen Händen vereint. Nach dem Chaos der Jelzin-Jahre hat das für allgemeine Erleichterung gesorgt. Viele Russen konnten sich endlich wieder eine Existenz aufbauen, eine Wohnung leisten, Urlaub im Ausland machen. Und im Unterschied zu den sowjetischen Zeiten hielt sich Putins Geheimdienst weitgehend aus dem Alltagsleben der Bürger heraus, es sei denn, ihr Verhalten kollidierte in irgendeiner Hinsicht mit den strategischen Interessen des Kremls. Für Zuspruch in der Bevölkerung sorgt, glaube ich, auch, dass Russland heute von vielen Bürgern als aufstrebende Großmacht wahrgenommen wird, die auch auf der Weltbühne wieder eine Rolle spielt.
ZON: Gilt das auch derzeit noch?
Belton: Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Begeisterung für Putin noch lange anhält. Es gibt zu viele Tote auf beiden Seiten, und man darf nicht vergessen, dass die meisten Russen Verwandte in der Ukraine haben. Dagegen wird die russische Staatspropaganda auf Dauer nicht ankommen.
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