Bücher lesen wir von vorne bis hinten, E-Mails von oben nach unten, Sätze von links nach rechts. Es gibt da wenig Spielraum.
An Kunstausstellungen ist interessant (neben, im Idealfall, der Kunst), wie beim Erzählen im dreidimensionalen Raum die Leserichtung aufgehoben wird. Man kommt rein durch eine Tür. Man geht raus durch eine Tür, oft sogar durch dieselbe. Dazwischen: völlige Freiheit!
Ein gutes Beispiel dafür ist die Ausstellung "Illusion", die noch bis Anfang April in der Kunsthalle zu sehen ist. Kuratiert wurde sie von Sandra Pisot, die für die Alten Meister zuständig ist, also für Malerei des 15. bis 18. Jahrhunderts. In diese Zeit fällt die Entdeckung der Zentralperspektive. Künstler begannen, in ihren Bildern räumliche Tiefe zu simulieren. In der Folge wurden Bauwerke zu einem beliebten Sujet. "Wir haben hier die größte Sammlung an Kircheninterieurs außerhalb des Rijksmuseums in Amsterdam", sagt Pisot über die Sammlung der Hamburger Kunsthalle. Aber alle Kirchenbilder nebeneinanderzuhängen? "Das hat mich dann doch nicht so gereizt."
Stattdessen verfolgte sie die Idee der optischen Täuschung weiter und begann, zu diesem Thema ganz unterschiedliche Arbeiten aus 500 Jahren Kunstgeschichte zu versammeln, nicht nur altmeisterliche, sondern auch moderne und zeitgenössische. Unter den Urhebern sind bekannte Namen – Max Beckmann, Gerhard Richter, Cindy Sherman –, ebenso wie ein anonymer Street-Art-Künstler.
Die Werke hat Pisot nicht chronologisch sortiert, sondern in Gruppen, die von einem gemeinsamen Motiv zusammengehalten werden, das meist ein Symbol für eine Sinnestäuschung ist: Masken, Schleier, Vorhänge, Träume, Spiegelungen. Ein berühmtes, mehr als hundert Jahre altes Narziss-Gemälde von John William Waterhouse hängt da zum Beispiel unweit eines Fotos, das Lars Eidinger 2019 in Hagenbecks Tierpark aufgenommen hat. Es zeigt einen Eisbären, der sich über ein Gewässer beugt und sich in dessen Oberfläche spiegelt.
Am Waterhouse-Gemälde lief ich bei meinem ersten Besuch achtlos vorbei – kenn ich schon, danke schön –, aber am Eisbären blieb ich hängen. Er sah aus wie das einsamste Wesen in der Welt. Moment, gilt dasselbe nicht auch für Narziss?! Ich hatte ihn immer für eitel gehalten, aber ist er nicht vielmehr: einsam? Also noch mal zurück zum Waterhouse und nachschauen. Tatsächlich, wenn man genau hinsieht, wirkt der Junge gar nicht mehr so doof und selbstverliebt, eher suchend und ernst.
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Man sieht Bilder neu, wenn man sie im Kontext anderer Bilder sieht. Das geht in "Illusion" ganz wunderbar: In dieser Ausstellung kann man kreuz und quer zwischen den Bildern, Kunstgattungen und Jahrhunderten umherlaufen und ihre Gemeinsamkeiten und Unterschiede entdecken. Die einzige Vorbedingung ist die Bereitschaft, sich nicht auf Ausschilderungen und Wandtexte zu verlassen, sondern auf die eigenen Sinne.
Das ist doch eine hübsche Pointe für eine Ausstellung über Sinnestäuschungen!
Ich wünsche Ihnen ein erholsames Wochenende,
Ihr Oskar Piegsa
PS: Leider entfällt in dieser und in der kommenden Woche die Gastro-Kolumne von Michael Allmaier. Wir haben von dem Kollegen aber einen Text als Ersatz bekommen. Bitte scrollen Sie dafür bis zur Rubrik "Der Satz".
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WAS HEUTE WICHTIG IST
Die verstorbene Autorin und NS-Zeitzeugin Peggy Parnass soll am kommenden Dienstag auf dem Jüdischen Friedhof in Ohlsdorf beigesetzt werden. Auf der Trauerfeier werde unter anderem Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD) sprechen, teilte ein Vertreter von Familie und Freunden der Verstorbenen mit. Auch die Leiterin des Ernst-Deutsch-Theaters, Isabella Vértes-Schütter, die Schauspielerin Sylvia Wempner und der Maler Ulrich Rölfing seien als Trauerredner vorgesehen. Parnass war am Mittwoch im Alter von 97 Jahren gestorben. Ihr Tod hat große Anteilnahme in der Stadt ausgelöst.
© Marcus Brandt/dpaKein Tag ohne neue Streikmeldungen: Für heute ist ein Warnstreik in der Elbphilharmonie und in Staatstheatern angekündigt. Betroffen sind das Schauspielhaus, die Oper und das Thalia Theater. Für 9 Uhr sei vor der Elbphilharmonie eine Kundgebung geplant, zusammen mit den Streikenden der Stadtreinigung, der Hamburg Port Authority, der Hadag und der Autobahn GmbH. Die Gewerkschaft ver.di fordert für die Beschäftigten im öffentlichen Dienst des Bundes und der Kommunen eine Tariferhöhung von acht Prozent sowie drei zusätzliche freie Tage. Die Arbeitgeber wiesen diese Forderungen als nicht finanzierbar zurück.
Der Baubranche geht es wirtschaftlich wieder besser. Das teilte das Statistikamt Nord gestern mit. Demnach erzielten die größeren Betriebe im vergangenen Jahr Umsätze in Höhe von 2,9 Milliarden Euro. Das waren 6,3 Prozent mehr als 2023. Auch unter Berücksichtigung der Inflation stieg der Umsatz um 4,5 Prozent. Besonders deutlich seien die Umsätze im öffentlichen Hochbau gestiegen, sie legten um 48,4 Prozent zu und erreichten eine Summe von 149 Millionen Euro. Deutlich gesunken sei die Anzahl der Aufträge im Wohnungsbau.
In aller Kürze
• Am 26. April laden wieder mehr als 50 Museen, Gedenkorte und Ausstellungshäuser zur Langen Nacht der Museen • Die vielfach ausgezeichnete Komponistin Sofia Gubaidulina ist im Alter von 93 Jahren gestorben. Sie gilt als prägende Figur der zeitgenössischen Musik und lebte vor den Toren Hamburgs in Schleswig-Holstein • Aus den Polizeimeldungen: In der Wohnung einer 39-Jährigen in Hausbruch wurde eine ältere Frauenleiche gefunden. Die Polizei vermutet, dass die Frau getötet wurde. Die 39-Jährige sitzt nun in Untersuchungshaft
THEMA DES TAGES
© Foto [M]: Roman Pawlowski für DIE ZEIT"Mich hat hier niemand gewollt"
Nach ihrer Flucht vor den Nazis kehrte die Jüdin Peggy Parnass (1927–2025) nach Hamburg zurück. Sie liebte das Leben, doch in ihr rumorte eine Verletztheit, erinnert sich ihr Freund Karl-Heinz Dellwo. Als Mitglied der Roten Armee Fraktion war Dellwo 1975 am Überfall auf die deutsche Botschaft in Stockholm beteiligt. Nach seiner Haftstrafe lernte er 1996 Parnass kennen, die damals unter anderem als Gerichtsreporterin arbeitete. Er wurde Teil ihres Freundeskreises und begleitete sie bis zu ihrem Tod am Mittwoch dieser Woche. Lesen Sie hier einen Auszug aus seiner Erinnerung an Peggy Parnass.
Der Kopf immer noch von ihren roten Haaren geschmückt, lag sie da im Bett, zierlich, seltsam entspannt und ruhig. Die Haut so glatt und hätte viele Jahre jünger sein können. Obwohl sie die letzten Tage nur noch geschlafen hatte, im Wechsel mal die Familie, mal die Freunde um sie herum, meistens mit ruhigem Atem noch lebend, scheint der Tod sie friedlich gemacht zu haben. Der Tod, den sie so hasste.
Was für ein Wort: friedlich! Man konnte sie nie als friedliche Frau bezeichnen, dazu war schon ihr Blick in die Welt und auf den anderen oder die andere zu interessiert, zu beobachtend, neugierig, manchmal wertend, manchmal hart verurteilend, aber friedlich: nein! In Peggy glühte immer ein Zorn, ein Widerspruch, ein Verlangen. Konstantin Weckers "Genug ist nicht genug" hätte eines ihrer Lebensmottos sein können.
Ebenso wenig, wie sie friedlich war, konnte sie zufrieden sein. Sie wollte immer etwas und immer wieder etwas mehr. Glück und Zufriedenheit war für sie das, was ihr meistens versagt blieb. Die kurzen Momente, in denen dieser Zustand sie vielleicht doch ergriff, zählten für sie nicht. Zu viel stand dagegen, vor allem eine bis ins tiefste Mark erlittene Verletztheit, nicht nur jene, die die Nazis ihr angetan hatten mit dem Mord an ihren Eltern und ihrem – meistens – folgenlosen Davonkommen. In ihr rumorte eine Verletztheit, weil sie mit ihrem glasklaren Verstand, mit ihrem expressiven Können, mit ihrer Bereitschaft, alles in den Augenblick hineinzuwerfen, doch nicht das hatte werden können, was in ihr steckte.
Lesen Sie diese Erinnerung auf ZEIT ONLINE weiter.
DER SATZ
© An Rong Xu für DIE ZEIT"Ich bin einer dieser Grüntee-Schnösel, die es schon missbilligen, wenn jemand Zucker in seine Tasse kippt. Entsprechend suspekt ist mir dieser Cocktail aus Tee, Milch, Sirup und weiß der Himmel was noch."
Unser Gastrokritiker Michael Allmaier wollte verstehen, warum viele Menschen gerne Bubble-Tea trinken. Also ist er zur Quelle gereist, nach Taiwan. Mit dabei war eine Expertin, seine zwölfjährige Tochter. Das Ergebnis der Recherche lesen Sie hier.
DAS KÖNNTE SIE INTERESSIEREN
Am Dienstagabend läuft in den fux Lichtspielen der Film "… bis die Gestapo kam – Das 'Chinesenviertel' in St. Pauli". In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts hatten sich in St. Pauli mehrere Hundert Chinesen angesiedelt. Während der NS-Zeit wurden sie verfolgt, interniert oder ausgewiesen. Am 13. Mai 1944 führte die Gestapo eine "Chinesenaktion" durch, bei der viele Männer festgenommen wurden. In dem Film kommen Zeitzeugen und Überlebende zu Wort. Als Gäste sind unter anderem anwesend der Filmemacher Rudi Simon, der Historiker Lars Amenda sowie Gunhild Ohl-Hinz vom St-Pauli-Archiv.
"… bis die Gestapo kam – Das 'Chinesenviertel' in St. Pauli", 18.3., 19 und 21 Uhr, fux Lichtspiele, Zeiseweg/Bodenstedtstraße. Um Anmeldung wird gebeten: film@fux-lichtspiele.de oder eine Stunde vor Beginn telefonisch: 0176 – 48 66 38 38
MEINE STADT
Am Abendhimmel die Mondsichel und die noch schwach leuchtende Venus. © Ingke TjebbesHAMBURGER SCHNACK
Beim Einlaufen des FlixTrains in den Hauptbahnhof entschuldigt sich der Lokführer, dass der Zug zwei Minuten zu früh ankomme, und verspricht: "Ich werde es ein anderes Mal mit einer zweiminütigen Verspätung wieder gutmachen."
Gehört von Sabine Lange
DIE HEUTIGE AUSGABE ZUM VERTIEFTEN LESEN
"Mich hat hier niemand gewollt" – Nach ihrer Flucht vor den Nazis kehrte die Jüdin Peggy Parnass nach Hamburg zurück. Sie liebte das Leben, doch in ihr rumorte eine Verletztheit, erinnert sich ein Freund.
Erklär mir diesen Bubble-Tea! (Z+) – Die ganze Welt liebt ihn. Unser Autor bis jetzt nicht. Um dieses Getränk besser zu verstehen, reist er nach Taiwan, wo man es erfand. Als Expertin mit dabei: seine zwölfjährige Tochter.
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