Die Anti-Israel-Demos der vergangenen Wochen zeigen ein verstörendes Ausmaß von Judenhass in Deutschland. Was steckt dahinter?
Artikel aus DIE ZEIT Veröffentlicht am
Erschienen in DIE ZEIT Nr. 22/2021
Seite 1"'Du Jude' gehört zu den häufigsten Schimpfwörtern auf deutschen Schulhöfen"
Seit der Waffenstillstand zwischen Israel und der Hamas gilt, ist es auch in Deutschland ruhiger geworden. Nicht mehr Tausende gehen seitdem zu Pro-Palästina- und Anti-Israel-Demonstrationen auf die Straße, sondern nur noch ein paar Hundert. Auch die Stimmung auf den Veranstaltungen hat sich beruhigt: Hatten Gruppen meist junger Männer in den vergangenen Wochen immer wieder antisemitische Parolen gerufen und die Polizei angegriffen, blieben die jüngsten Proteste weitgehend friedlich.
Das ändert jedoch nichts an einer besorgniserregenden Erkenntnis: Die bisherigen Ermittlungen der Staatsanwaltschaft sowie Videoaufnahmen legen nahe, dass es mehrheitlich junge Männer mit arabischen und türkischen Wurzeln waren, die "Scheißjuden" riefen, Bomben auf Tel Aviv forderten und Steine auf Polizisten in Berlin und die Synagoge in Bonn warfen. Herbert Reul, Innenminister von Nordrhein-Westfalen, sprach vergangene Woche im Düsseldorfer Landtag von "jungen Männern mit arabischstämmigem Hintergrund", die die Behörden als Tatverdächtige hinter den antisemitischen Straftaten in seinem Bundesland identifiziert hätten.
Dass Antisemitismus in der deutschen Nachkriegsgesellschaft immer präsent war, ist Konsens. Studien attestierten gut 15 Prozent der Deutschen ein antisemitisches Weltbild. Bislang aber wurden antisemitisch motivierte Straftaten vor allem dem rechtsextremen Milieu zugeschrieben. Der Anschlag auf die Synagoge von Halle 2019 dient dabei als Beleg der gestiegenen Gewaltbereitschaft dieses Milieus.
Die Ausschreitungen auf den Demonstrationen der vergangenen zwei Wochen werfen Fragen auf, die bislang nicht im Zentrum der Debatte standen: Wie groß ist der Antisemitismus unter Deutschen mit Migrationsgeschichte und hier lebenden Menschen aus arabischen Staaten? Welche Gefahr geht von ihm für Jüdinnen und Juden aus? Und: Woher stammt dieser Hass?
Antisemitismus - Schuld sind immer die anderen In der Corona-Pandemie erfahren uralte Ideologien einen Aufschwung. Michael Blume versucht dem als Antisemitismusbeauftragter in Stuttgart etwas entgegenzusetzen. © Foto: Fabian Sommer/picture alliance/dpa Dieser Artikel stammt aus der ZEIT Nr. 22/2021. Hier können Sie die gesamte Ausgabe lesen. Ausgabe entdeckenDiese Fragen sind schwierig zu beantworten, denn Hass lässt sich nicht einfach quantifizieren. Antisemitismus steckt, teils codiert, in Corona-Verschwörungstheorien und der Legende über angebliche US-Ostküsten-Eliten, die die Welt beherrschten. Er tritt, wie im Fall der jüngsten Proteste, nicht nur in Parolen gegen den Staat Israel, sondern offen gegen alle Jüdinnen und Juden zutage.
© Lea DohleNewsletter
Was jetzt? – Der tägliche MorgenüberblickStarten Sie mit unserem kurzen Nachrichten-Newsletter in den Tag. Erhalten Sie zudem freitags den US-Sonderletter "Was jetzt, America?" sowie das digitale Magazin ZEIT am Wochenende.
Mit Ihrer Registrierung nehmen Sie die Datenschutzerklärung zur Kenntnis.
Vielen Dank! Wir haben Ihnen eine E-Mail geschickt.Prüfen Sie Ihr Postfach und bestätigen Sie das Newsletter-Abonnement.
Die ZEIT hat mit zahlreichen Wissenschaftlern gesprochen und verfügbares Zahlenmaterial ausgewertet. Während der Judenhass des Nazi-Regimes und der Folge-Generationen in der Bundesrepublik gründlich erforscht ist, gibt es bislang nur relativ wenige belastbare Erkenntnisse zu antisemitischen Einstellungen von Menschen mit Migrationsgeschichte.
Zwei Studien liefern zentrale Erkenntnisse. Zum einen ist da die Statistik politisch motivierter Kriminalität, die jedes Jahr vom Bundeskriminalamt (BKA) zusammengetragen wird. Sie führt alle von der Polizei verfolgten Straftaten mit politischem Hintergrund auf. Im Bereich Antisemitismus zeigt sie seit Jahren eine Zunahme der Fälle und fächert auf, welches Tätermilieu für welche Taten verantwortlich ist: Im Jahr 2020 registrierte das BKA 2.351 antisemitische Straftaten, 15,7 Prozent mehr als im Vorjahr. Dabei entfielen knapp 95 Prozent auf rechtsextreme Täter; die Kategorien "ausländische Ideologie" und "religiöse Ideologie" fallen hingegen kaum ins Gewicht. Der Judenhass von Menschen mit Migrationshintergrund – laut offiziellen Daten kaum ein Problem. Kann das wirklich sein?
Den Zahlen des BKA steht eine Studie der Uni Bielefeld von 2017 gegenüber, sie trägt den Titel Jüdische Perspektiven auf Antisemitismus in Deutschland und basiert auf einer Online-Befragung von 553 Jüdinnen und Juden. Unter den Befragten, die Opfer antisemitischer Taten geworden sind, geben 62 Prozent an, dass "verbale Beleidigungen/Belästigungen" gegen sie von Muslimen ausgegangen seien. Bei "körperlichen Angriffen" sind es gar 81 Prozent. In dieser Studie werden nur etwa 20 Prozent der Taten einem rechtsextremen Täterkreis zugeschrieben.
Auf den ersten Blick widersprechen sich die beiden Studien. In Fachkreisen gelten sie trotzdem als aussagekräftige Quellen. "Die beiden Untersuchungen befassen sich mit unterschiedlichen Parametern: Eine antisemitische Tat, wie sie die Bielefelder Studie abbildet, muss nicht gleichzeitig eine antisemitische Straftat sein, wie sie das BKA erfasst", sagt Samuel Salzborn, Antisemitismusbeauftragter des Landes Berlin. Allerdings weise die BKA-Statistik methodische Mängel auf: Häufig würden Straftaten, die sich nicht eindeutig einem bestimmten Täterkreis zuordnen ließen, von Polizeibeamten automatisch als "rechtsextrem motiviert" erfasst. "So kann es passieren, dass ein Hitlergruß auf einer Demo von Sympathisanten der israelfeindlichen Hisbollah in der Statistik als rechtsextreme Tat auftaucht", so Salzborn.
RetroSearch is an open source project built by @garambo | Open a GitHub Issue
Search and Browse the WWW like it's 1997 | Search results from DuckDuckGo
HTML:
3.2
| Encoding:
UTF-8
| Version:
0.7.3