Himmler ist dem Fieber der Inflationszeit verfallen. Parapsychologen haben damals Hochkonjunktur, in Berlin rennen Erlöser, so der Zeitzeuge und Publizist Sebastian Haffner, »hundertweise herum, Leute mit langen Haaren, härenen Hemden, die erklärten, von Gott zur Errettung der Welt gesandt worden zu sein«.
Himmler - inzwischen arbeitslos und wieder bei den Eltern wohnend - gibt sich dem sanften Wahn hin, liest über Pendeln, Astrologie, Telepathie. Zugleich verschlingt er mit fast gläubig anmutender Kritiklosigkeit rechtsradikale Schundliteratur. Seine Leseliste weist zwischen den Sommern 1922 und 1924 ganze 81 Titel aus, knapp die Hälfte ist antisemitisch und völkisch. Und besonders oft geht es um nichtjüdische Frauen, die von Juden verführt werden.
Theodor Fritschs bösartiges »Handbuch der Judenfrage« etwa findet sich darunter. Himmlers Kommentar: »Erkenntnis dieser fürchterlichen Gottesgeißel ... von der wir erdrosselt werden«. Oder die Werke des Rassentheoretikers Hans F. K. Günther, in denen von »hassenden Helden« des 20. Jahrhunderts die Rede ist, welche über das Recht zum »Ausrotten und Brennen« verfügen. Himmler schreibt: »ein Buch, das mir das ausdrückt, was ich fühle und denke«.
Ein krudes Phantasiegebilde wächst in Himmlers Kopf heran, dem zufolge Deutschlands Zukunft in germanisch-bäuerlichen Siedlungsformen liegt ("Dann gehört die Erde uns"), bewohnt von Menschen der »nordischen Rasse«.
Noch hat Himmler niemanden ermordet. Doch das Fundament ist gelegt, lange bevor Adolf Hitler in die Reichskanzlei einzieht.
1924 taucht der »Führer« erstmals in Himmlers Notaten auf ("ein wahrhaft großer Mann"). Inzwischen ist der Ex-Student der NSDAP beigetreten, und als diese in Niederbayern einen Sekretär sucht, fällt die Wahl auf ihn, nicht zuletzt weil er mobil ist: »Der Bursche ist zweifellos nützlich - er hat ein Motorrad«, sagt sein damaliger Vorgesetzter. Himmler organisiert die Partei ("Organisationsarbeit liegt mir ja sehr gut") und versucht sich als Agrarexperte. Noch ist die NSDAP eine Splitterpartei, die Zahl der Aktivisten überschaubar. 1926 steigt Himmler zum stellvertretenden Reichspropagandaleiter auf.
Er führt ein rastloses Leben, reist über die Dörfer und besucht Ortsgruppen, und daran ändert sich auch wenig nach seiner
Hochzeit 1928 mit Krankenschwester Marga, die bald darauf eine Tochter zur Welt bringt. Das Geld ist knapp, sie schreibt: »Liebchen, ich glaube, der böse Mann muss dafür sorgen, dass gespart wird. Du weißt ja, die böse Frau gibt immer soviel Geld aus.«
Himmlers kaufen 50 Zuchthennen und versuchen sich im Nebenerwerb als Hühnerzüchter. Es geht in den Briefen des Paars dann oft um Eier, denn: »Die Hühner legen furchtbar schlecht.« Erst als die Weltwirtschaftskrise die Nazis Volkspartei werden lässt und Himmler 1930 ein Reichstagsmandat samt Diäten erringt, ist er die Geldsorgen los.
Hitler schätzt inzwischen Eifer und Loyalität des elf Jahre Jüngeren ("ein außerordentlich brauchbarer Kerl"). Und möglichen Konkurrenten gilt Himmler als idealer zweiter Mann: arbeitswillig und ungefährlich. 1930 wird Joseph Goebbels Reichspropagandachef und notiert über seinen Stellvertreter: »Er ist nicht übermäßig klug, aber fleißig und brav.«
So kann Himmler ungehindert die Leitung der Schutzstaffeln übernehmen: der SS. Diese umfassen einige hundert Parteiaktivisten und sollen Hitler und andere führende Nazis bei Veranstaltungen schützen. Man trifft sich viermal im Monat, zur Propagandafahrt, zum militärischen Drill, zum Jiu-Jitsu-Training. Mindestgröße 1,70, Mindestalter 23.
Politisch ist das Amt ohne Bedeutung. Und vermutlich wäre es dabei auch geblieben, wenn Hitler nicht zunehmend Schwierigkeiten mit den undisziplinierten Schlägern seiner Parteiarmee, der SA, bekommen hätte. Diese Truppe aus überwiegend gescheiterten Existenzen unter dem Kommando des kleinen, dicken Hauptmanns Ernst Röhm beugt sich nur widerwillig Hitlers Strategie, mit halbwegs legalen Methoden an die Macht zu kommen.
Obwohl die SS formal der SA untersteht, formt Himmler den Totenkopf-Orden zu einer Gegenkraft, die sich der Parteiführung bedingungslos ergeben zeigt. Aus 280 Mann im Jahr 1928 werden bis zur sogenannten Machtergreifung 50 000. Mit jedem Mann wächst Himmlers Bedeutung - und der Umfang seiner späteren Tötungsmaschine.
Den ersten nachweisbaren Mord seines Lebens gibt Himmler in der bürgerkriegsartigen Endphase der Weimarer Republik in Auftrag. Er befiehlt, in Königsberg »Kommunistenhäuptlinge umzulegen«. Am 1. August 1932 erschießen seine Leute einen Stadtrat von der KPD.
Himmler ist keine charismatische Landsknechtfigur wie Röhm, kein Volkstribun wie Göring und auch kein mitreißender Demagoge wie Goebbels. Dampfender Pöbel, hypnotisierte Massen - das ist nicht die Welt des Apparatschiks mit dem Zwicker. Er verfügt über andere Talente: Er ist abgebrühter als Röhm, nervenstärker als der morphiumabhängige Göring, noch rücksichtsloser als der durchtriebene Goebbels. Hier verbirgt sich das Böse hinter der Maske des Banalen.
Er lässt den gefürchteten Sicherheitsdienst (SD) aufbauen, der nicht nur politische Gegner und Juden erfasst, sondern auch nützliche Schwächen seiner parteiinternen Konkurrenten ausforscht. Gesammelt werden Infos über den schwulen Röhm, den liebestollen Goebbels, den korrupten Göring.
Am 30. Juni 1931 notiert der Propagandachef überrascht: »Ich komme einem großangelegten Komplott auf die Spur: die SS (Himmler) unterhält hier in Bln. ein Spionagebüro, das mich überwacht. Dieses setzt die irrsinnigsten Gerüchte in die Welt.« Goebbels will sich bei Hitler über seinen Stellvertreter beschweren ("Dieses hinterlistige Vieh muss verschwinden"), doch Himmler bleibt.
Ausgerechnet nachdem Hitler in die Reichskanzlei einzieht, am 30. Januar 1933, gerät die sinister eingefädelte Karriere kurz ins Stocken. Göring übernimmt nämlich die preußische Polizei, die bedeutendste bewaffnete Formation nach der Reichswehr. Die SS verliert an Bedeutung, Himmler muss sich mit dem Posten des Polizeipräsidenten in München begnügen. Noch ist keineswegs sicher, dass er einmal Entsetzen in ganz Europa verbreiten würde.
Aber sein Machtinstinkt hilft dem 32-Jährigen, lässt ihn Stufe um Stufe nach oben klettern. Himmler gründet in Bayern eine neue Dienststelle, die Politische Polizei. Ein munteres Spiel mit den Kompetenzen beginnt. Himmler ernennt die SS zur Hilfspolizei, und dann verlagert er als Kommandeur der Politischen Polizei Kompetenzen an den Reichsführer SS, vulgo Himmler.
Und so übernimmt die nichtstaatliche SS in Dachau von der Schutzpolizei das erste dauerhafte Konzentrationslager des »Dritten Reiches« - für die Opfer ein enormer Unterschied. Die Schupos haben sie zwar auch gequält, aber die SS-Männer erschießen gleich am zweiten Tag vier Häftlinge. Himmler träumt von einem völkischen Staat, in dem Gesetze keine Rolle spielen. Er verschmilzt in Bayern Polizei, SS, SD und KZ-Personal zu einem neuartigen Unterdrückungsapparat.
Hitler ist von dem bayerischen Modell angetan, in dem der Häftling nichts ist und der SS-Mann alles. Himmler, findet der »Führer«, sei »einer von jenen Männern, die ihre Pflicht mit eisiger Entschlossenheit erfüllen«. Radikalität und Loyalität imponieren dem Diktator.
Und in beidem lässt Himmler sich nicht überbieten.
Im Sommer 1934 wendet sich Hitler gegen SA-Chef Röhm - manche Historiker glauben, dass Himmler einer der Strippenzieher hinter dem blutigen Ereignis ist.
Sicher ist, dass er den Machtkampf anheizt, indem er immer neue Alarmmeldungen erfindet, denen zufolge Röhm nach der Macht strebe. Gemeinsam mit anderen Nazi-Funktionären wie Göring lässt Himmler schon früh Todeslisten aufstellen. Und als dann Hitler Röhm in eine Falle lockt und verhaftet, beginnen Polizei und Himmlers SS-Leute die Listen abzuarbeiten. Mindestens 85 Menschen werden in den folgenden Tagen erschossen oder aufgehängt. Neben Röhm und dessen Gefolgsleuten auch führende Konservative. Hitler rechtfertigt das Massaker nachträglich als »Staatsnotwehr«.
Für SS-Chef Himmler bedeutet das Ausscheiden der nun führungslosen SA als politischer Faktor einen entscheidenden Machtzuwachs. Erst jetzt wird die SS zur eigenständigen Organisation, erst jetzt gelingt es Himmler, die zahlreichen kleinen KZ, die der SA unterstehen, unter seine Kontrolle zu bringen. Viele von ihnen schließt er, denn Himmler schwebt ein ganz neuer Lagertypus vor: »jederzeit erweiterungsfähig, modern und neuzeitlich«. Mord als Managementaufgabe.
1936 ernennt Hitler seinen Himmler zum deutschen Polizeichef. Allerdings lädt der Diktator den Reichsführer SS nur selten in den engen Kreis, zu jenen Mittagsrunden in Berlin oder zum Abendessen auf den Berghof bei Berchtesgaden mit dem herrlichen Ausblick.
Hitlers Lieblingsarchitekt und späterer Rüstungsminister Albert Speer hat beschrieben, mit welchen Tricks die Gefolgschaft ihre Projekte bei Hofe voranzutreiben sucht. So weiß Goebbels den Diktator mit Schnurren aus der »Kampfzeit« in Stimmung zu bringen, ehe er eigene Anliegen vorträgt. Speer macht Gutwetter mit Bauprojekten, auf die er wie zufällig zu sprechen kommt.
Und Himmler? Er erzähle dem »Herrn Hitler«, berichtet Speer, »belustigt, dass er zu Aufsehern über die Häftlinge am liebsten Verbrecher einsetze«. Hitler lobt ihn für diese »besonders gute Idee«. Menschenquälerei als Stimmungsaufheller.
Längst sitzen die Nazis fest im Sattel, die politische Opposition ist zerschlagen. 3000 Gefangene darben Mitte der dreißiger Jahre in den Lagern, für Nazi-Verhältnisse ungewöhnlich wenige. Da beginnt Himmler von »geistigen Urhebern« und »Hintermännern« des »Untermenschentums« zu raunen, gegen die man präventiv vorgehen müsse. Hitler, selbst ein rassistischer Verschwörungstheoretiker, leuchtet das offenbar sofort ein.
Schon bald füllen sich die Lager, der Terror richtet sich jetzt vor allem gegen sogenannte Asoziale, darunter Sinti und Roma, die Zeugen Jehovas, Schwule, Kriminelle.
Himmler findet für sich und seine Männer immer neue Aufgaben - Biograf Longerich sieht darin einen der Gründe für die spektakuläre Karriere des Sonderlings.
Manches Politische ist dabei auch persönlich: Himmler will aus der SS einen Zuchtorden formen, denn es sei »absolut klar, dass das deutsche Volk sexuell absolut in Unordnung ist«. Vermutlich ist das auch ein Vorwand für seinen Voyeurismus, der ihn einen beträchtlichen Teil seiner Zeit darauf verwenden lässt, sich um das Fortpflanzungsverhalten seiner Untergebenen zu kümmern.
SS-Männer müssen ihre Braut »erbgesundheitlich« untersuchen lassen. Himmler will die Form der Beine wissen ("gerade, O-Bein, X-Bein"), begutachtet Fotos der Frauen und befiehlt bei »Übergewichtigkeit« den Besuch eines Arztes.
Einen SS-Mann rügt Himmler, es sei »unritterlich«, wenn dieser von »seiner Frau kurz vor der Entbindung den ehelichen Verkehr verlangt«. Andere drängt er zum Kinderzeugen und erwartet Vollzugsmeldung.
Auf eheliche Treue legt er bei seinen Untergebenen keinen Wert, sondern erlaubt eine Friedelehe, wenn daraus Kinder erwachsen - ein Recht, das er auch für sich in Anspruch nimmt, denn seine Ehe ist inzwischen zerrüttet, und das gemeinsame Heim in Gmund am Tegernsee besucht er nur, um seine Tochter zu sehen. Himmler beginnt eine Liaison mit seiner Sekretärin Hedwig ("Häschen") Potthast, und sie gebärt zwei Kinder.
Das enge Korsett der kirchlichen Sexualmoral ist ein wesentlicher Grund, warum der einst gläubige Katholik Himmler das Christentum ("die größte Pest, die uns in der Geschichte anfallen konnte") nun durch eine »germanische« Lebensweise zu überwinden sucht.
Statt Weihnachten feiert Himmler das Fest der Wintersonnenwende (Julfest) und verschenkt Julleuchter an verheiratete SS-Männer ("Gerade die Frau will ja, wenn sie den Mythos der Kirche verliert, irgendetwas anderes haben"). Er entwirft neue Riten für Taufen ("Namensweihe"), Eheschließungen ("Eheweihe"), Begräbnisse.
Hitler zeigt sich über den »kultischen Unfug« halb ver-
ärgert, halb belustigt, schreitet aber nicht ein. Man schreibt das Jahr 1937, und das NS-Re-
gime geht langsam auf offenen
Expansionskurs, da zählt nur, dass Himmler und er den gleichen Vernichtungsträumen nachhängen.
Im Februar des Jahres verkündet Himmler bei einer SS-Gruppenführerbesprechung, die Welteroberung werde in Etappen erfolgen. Besetzte Provinzen mit sogenannter nichtgermanischer Bevölkerung sollen dann »ausgekehrt« werden »bis zur letzten Großmutter und zum letzten Kind - und ohne Barmherzigkeit«.
Wozu die Nationalsozialisten schon vor dem Weltkrieg fähig sind, deuten sie am 9. November 1938 an, während der sogenannten Reichskristallnacht. Sie sollte sich auswachsen zum schlimmsten Pogrom in Deutschland seit dem Mittelalter.
Kurz zuvor hatte in Paris ein 17-jähriger polnischer Jude einen deutschen Diplomaten niedergeschossen, weil seine Eltern gemeinsam mit Tausenden weiteren polnischen Juden von den Nazis abgeschoben worden waren. Die Parteibasis tobt, Hitler nutzt die Pogromstimmung und schickt überall im Reich seine Schläger los. Mit dabei: Himmlers SS-Leute.
Der braune Mob wirft die Scheiben von Geschäften jüdischer Besitzer ein und demoliert jüdische Einrichtungen, er brennt und reißt mehr als 1400 Synagogen und Betstuben nieder, während die Feuerwehr zuschaut und bloß aufpasst, dass das Feuer nicht auf die Nachbarhäuser übergreift. Nach neuen Schätzungen werden mindestens 400 Menschen in jener Nacht ermordet: aus den Wohnungen geholt oder auf der Straße aufgegriffen und dann erschlagen oder erschossen.
Himmler ist die meiste Zeit an Hitlers Seite und lässt die Konzentrationslager für bis zu 30 000 neue Häftlinge vorbereiten. Seine Schergen ziehen in den folgenden Tagen übers Land und nehmen Juden fest. Die Gesamtzahl der Toten beläuft sich auf mehr als tausend Menschen.
Auf das Pogrom folgt eine Welle antisemitischer Gesetze, und wo immer Himmler die Möglickeit dazu hat, zeigt er sich als besonders radikaler Rassist, der - so bietet es sich im Rückblick dar - seine Männer schon damals systematisch auf noch ganz andere Verbrechen vorbereitet.
Als 1939 das »Dritte Reich« Polen überfällt, ist es so weit. Jetzt geht es nicht mehr nur um Hunderte Opfer, sondern die jahrelang eingeschliffene Kampfrhetorik schlägt um in Massenmord. Himmlers sogenannte Einsatzgruppen aus Sicherheitspolizei und Sicherheitsdienst sollen das »führende Polentum« liquidieren, denn Hitler will das Land dauerhaft besetzen. Ihrem diffusen Feindbild gemäß töten die Männer auch sozial Schwache, Prostituierte, Zigeuner, Behinderte.
Vielfach beteiligen sich Wehrmachteinheiten an den Verbrechen, aber die meisten der Zehntausende katholischer und jüdischer Polen, die bis Ende 1939 sterben, wurden von Himmlers Leuten erschossen, totgeschlagen oder - besonders beliebt - in Synagogen eingesperrt und dann verbrannt. Aus einem Sonderzug namens »Heinrich« leitet ihr Chef die Operationen.
Kein einziges Beispiel von Befehlsverweigerung ist überliefert.
Wie konnte es ihm gelingen, eine derart motivierte Mördertruppe zusammenzustellen? Sicher ist: Er kann in den dreißiger Jahren auf ein großes rechtsradikales Milieu zurückgreifen, in dem eine rassistische Hasskultur dominiert. Der Anspruch der SS, Garde des »Führers« zu sein, das martialische Auftreten, die schwarzen Uniformen mit Reitstiefeln und Totenkopfabzeichen faszinieren viele junge Nazis, deren Weltbild dann endgültig in SS-Kasernen geformt wird (SPIEGEL 11/2008).
Und dann verfügt der Reichsführer SS über die Gabe, aus dem großen Pool der infolge von Weltkrieg und Wirtschaftskrise Gescheiterten jene an sich zu binden, die über ein besonderes mörderisches Potential verfügen. SD-Chef Reinhard Heydrich etwa, 1931 unehrenhaft aus der Marine entlassen, scheinbar ein Tunichtgut.
Unter Himmler entwickelt der Mann eine derart rastlose Energie, dass Sekretärinnen im Schichtdienst seine verbrecherischen Diktate tippen müssen.
Für sein Aufbauwerk erhält Himmler höchstes Lob vom »Führer« persönlich: »Ihren ganzen Gehalt hat sie (die SS -Red.) durch Himmler bekommen. Aus diesem Häufchen die stärkste Weltanschauungstruppe gemacht zu haben, ist sein Verdienst.« Vor dem Krieg hat Himmler geglaubt, sein Rasseimperium liege in weiter Ferne, doch nun ist Polen besetzt, und Hitler ernennt ihn im Herbst 1939 zum »Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums«, zuständig für die »Gestaltung neuer deutscher Siedlungsgebiete«. Himmler empfindet »sehr große Freude« und macht sich ans Werk, seine schrecklichen Utopien umzusetzen.
Wie Spielfiguren schiebt er in Denkschriften Völker über die Landkarte. Die großen deutschen Minderheiten in Osteuropa sollen in den bereits eroberten oder noch zu erobernden Ostgebieten angesiedelt werden. Ihnen sollen Polen und Juden weichen, die Himmler mal in Madagaskar, mal in einem »Judenreservat« um das ostpolnische Lublin ansiedeln möchte.
Noch lehnt der SS-Führer die unmittelbare »physische Ausrottung« von Völkern als »ungermanisch« und vor allem »unmöglich« ab, aber das ändert sich mit dem Überfall auf die Sowjetunion im Sommer 1941, denn damit öffnen sich ganz neue Möglichkeiten. Der Genozid aus der Lektüre des jungen Himmler rückt plötzlich in greifbare Nähe.
Vom 11. bis 15. Juni 1941 versammelt er seine Führungsriege auf der Wewelsburg bei Paderborn. Das Schloss im Stil der Weserrenaissance, errichtet auf den Ruinen einer mittelalterlichen Burg, beherbergt die »Reichsführerschule« und zählt zu den »heiligen Orten« der SS; dort sollen einmal die Totenkopfringe verstorbener SS-Angehöriger in einem Schrein ver-
wahrt werden, die Himmler als Ehrenzeichen verleiht.
Ein Protokoll ist nicht überliefert; Teilnehmer berichten später, Himmler habe erstmals die Zahl von 30 Millionen genannt, um die er die Bevölkerung der Sowjetunion dezimieren wolle. Alle Beteiligten wissen, dass sich ein solcher Mord nicht sogleich realisieren lässt. Zuerst soll es die Juden treffen, nicht zuletzt weil die Nazi-Führung davon überzeugt ist, eine irgendwie geartete »jüdisch-bolschewistische Intelligenz« bilde die Basis für Stalins Herrschaft.
Himmler zieht ungefähr 34 000 Mann zusammen, Gestapo-Schergen, Sicherheitsdienstler, Waffen-SS-Truppen, Ordnungspolizisten, ehemaliges KZ-Personal. Als die Wehrmacht am 22. Juni 1941 in die Sowjetunion einfällt, beginnen gleich hinter der Front die Massaker.
Himmler ist schon als kleiner Parteifunktionär von rastloser Energie gewesen, der die technischen Möglichkeiten nutzt, die ihm das 20. Jahrhundert bietet: Flugzeuge, Autos, Sonderzüge. Immer wieder reist er durch Osteuropa und feuert seine Leute an. Wo der SS-Chef stoppt, gehen kurz darauf in vielen Fällen die Opferzahlen drastisch nach oben, etwa in Augustowo und in Bialystok im heutigen Polen.
Zunächst werden nur jüdische Männer erschossen, ab August 1941 auch Frauen und Kinder. Himmler: »Ich habe mich entschlossen, auch hier eine ganz klare Lösung zu finden. Ich hielt mich nämlich nicht für berechtigt, die Männer auszurotten - sprich also umzubringen oder umbringen zu lassen - und die Rächer in Gestalt der Kinder für unsere Söhne und Enkel groß werden zu lassen.«
Dem »Führer« entgegenarbeiten hat der Hitler-Biograf Ian Kershaw diesen radikalisierenden Mechanismus genannt, der überall im »Dritten Reich« zu beobachten ist. Himmler ist bei weitem nicht der einzige Schreibtischtäter - aber nach Hitler mit Abstand der wichtigste und mächtigste.
Es spielen sich unglaubliche Szenen ab. Himmler befiehlt SS-Kavalleristen in Weißrussland, die Männer zu erschießen und »Judenweiber in die Sümpfe (zu) treiben«. Das 2. SS-Kavallerieregiment meldet zurück: »Weiber und Kinder in die Sümpfe zu treiben hatte nicht den Erfolg, den es haben sollte, denn die Sümpfe waren nicht so tief, dass ein Einsinken erfolgen konnte.« Natürlich müssen sie trotzdem sterben.
Bei manchen der Täter rebelliert der Körper mit Depressionen, Magenbeschwerden, Nervenleiden. Ostkoller nennen die Männer die psychosomatischen Folgen der Verbrechen. Die SS unterhält in Karlsbad ein eigenes Sanatorium, in dem sich Führungskräfte vom Morden erholen können. Himmler befiehlt seinen Untergebenen, magenschonendes Röstbrot zu essen und auf Salzkartoffeln zu verzichten. So hält man sich fit für den Holocaust.
Bis März 1942 haben allein die Einsatzgruppen über eine halbe Million Menschen umgebracht.
Auf einer seiner Mordreisen schaut sich Himmler persönlich in Minsk eine Exekution an. Die Opfer sind angeblich Partisanen, sie müssen sich mit dem Gesicht nach unten in eine Grube legen, Angehörige der Einsatzgruppe B wechseln sich beim Feuern ab.
Einer von ihnen berichtet nach dem Krieg: »Nach der ersten Salve kam Himmler direkt zu mir her und schaute selbst in die Grube. Dabei beobachtete er, dass noch einer lebte. Er sagte zu mir: ,Leutnant, schießen Sie auf den!'«
Der Polizist tat wie geheißen.
Im Anschluss hält Himmler eine kurze Rede, deren Inhalt er in jenen Tagen öfter wiederholt. Er wisse um die Belastungen, die solche Aktionen mit sich brächten - nicht etwa für die Opfer, sondern für die Täter. Aber im »Weltanschauungskrieg« sei das nötig.
Insgeheim lässt Himmler andere Methoden des Mordens prüfen. In einer Heilanstalt werden psychisch Kranke versuchshalber in die Luft gesprengt, andere mit Gas vergiftet. Als ihm im Oktober 1941 der SS- und Polizeiführer des Distrikts Lublin vorschlägt, in Belzec im Süden von Lublin eine stationäre Gaskammer einzurichten, stimmt Himmler zu. Das erste Vernichtungslager wird gebaut, bald darauf beginnt man in fünf weiteren Lagern, Menschen mit Giftgas zu morden, in Auschwitz, Treblinka, Majdanek, Sobibór und Chelmno.
Wie und wann Hitler und Himmler die einzelnen Phasen des Holocaust abstimmen, ist nicht bekannt. Später beruft sich der SS-Führer intern auf einen Befehl Hitlers, dem zufolge er die »besetzten Ostgebiete ... judenfrei« machen soll - darunter verstehen die Nazis insbesondere das Baltikum, Weißrussland, die Ukraine. Die Annahme liegt nahe, dass es auch für die Deportationen aus anderen Teilen Europas, die nun schrittweise in das Mordprogramm einbezogen werden, eine Art Befehl gibt - aber wohl nur der bürokratischen Ordnung halber. Niemand muss Himmler vorschreiben, Juden umzubringen.
Er ergreift Initiative, drückt aufs Tempo, nutzt alle Möglichkeiten, die ihm sein Sicherheitsapparat bietet. Der Diktator muss seinen obersten Schergen schließlich sogar bremsen, denn einige der Opfer werden noch als Arbeitssklaven gebraucht.
Am 17. Juli 1942 trifft Himmler für eine zweitägige Inspektion in Auschwitz ein und lässt sich zeigen, was mit einem gerade eingetroffenen Transport geschieht: wie sogenannte Funktionshäftlinge die Arbeitsunfähigen aussondern und sie zum Bunker 2 bringen, einem ehemaligen Bauernhaus, dessen Räume abgedichtet sind. Ein SS-Mann kippt das Schädlingsbekämpfungsmittel Zyklon B aus versiegelten Dosen durch Einwurfluken; nach wenigen Minuten sind die Opfer erstickt.
Himmler bleibt auch, als jüdische Häftlinge die im Todeskampf ineinander verkrallten Leichen mit den blau angeschwollenen Köpfen herausholen.
Angeblich soll ihm flau geworden sein, berichtet später seine Entourage, beim Abendessen mit Funktionären ist er jedoch bester Laune und gibt sich gegenüber den anwesenden Damen, der Frau des Gauleiters und der des KZ-Kommandanten, »äußerst liebenswürdig«, wie ein Teilnehmer berichtet. Man spricht über Kindererziehung, Kunst und Literatur.
Wie ist das möglich?
Himmler empfindet sich als Idealist, er fühlt sich motiviert von seiner Idee einer perfekten Welt, die er zu schaffen hilft, und manche seiner Helfer und Helfershelfer folgen ihm darin. In dieser Welt gilt Mord als Pflicht, die Opfer zu bestehlen aber als unmoralisch. Eines der schrecklichsten Dokumente in deutscher Sprache, seine Rede vor hohen SS-Führern in Posen am 4. Oktober 1943, zeugt von dieser »heillosen Konfusion aller Maßstäbe«, wie der Publizist und Historiker Joachim C. Fest ur-teilte. Himmler: »Ich will hier vor Ihnen in aller Offenheit ... ein ganz schweres Kapitel erwähnen ... Ich meine jetzt die Judenevakuierung, die Ausrottung des jüdischen Volkes ... Von Euch werden die meisten wissen, was es heißt, wenn 100 Leichen beisammen liegen. Dies durchgehalten zu haben und dabei anständig geblieben zu sein, das hat uns hart gemacht ... Die Reichtümer, die sie hatten, haben wir ihnen abgenommen. Wir hatten das moralische Recht, wir hatten die Pflicht gegenüber unserem Volk, dieses Volk, das uns umbringen wollte, umzubringen. Wir haben aber nicht das Recht, uns auch nur mit einem Pelz, mit einer Uhr, mit einer Mark zu bereichern.«
Doch Himmlers perverse Vision von der leidenschaftslosen Vernichtung ist Illusion. Viele seiner Männer nutzen ihre Allmacht, um zu vergewaltigen, zu prügeln, zu quälen. Geflissentlich ignoriert der oberste SS-Mann, wie unglaublich korrupt seine Ordensbrüder sind, die in den Ghettos die Menschen ausplündern und dafür sogar einen eigenen Ausdruck benutzen: »mit der Pistole einkaufen«.
Himmler ist nun auf dem Höhepunkt seines mörderischen Schaffens. Der »Führer« lobt ihn im Beisein der anderen Adlaten als »ganz überragende Persönlichkeit unseres Regimes« und ernennt ihn zum Innenminister.
Es läuft die letzte große Welle, mit der Juden aus dem Reichsgebiet deportiert werden. Auch über das Schicksal sogenannter Asozialer hat der SS-Chef entschieden, sie sollen sich in den Konzentrationslagern zu Tode schuften. Deutschland ist 1943 dem von Himmler angestrebten Ideal ein ganzes Stück näher gekommen. Und trotz der Kriegswende durch die Niederlage bei Stalingrad entwirft er immer neue, furchtbare Pläne für die Völker Osteuropas.
Von Russen und Tschechen will er sich »was in den Völkern an gutem Blut unserer Art vorhanden ist, holen, indem wir ihnen, wenn notwendig die Kinder rauben und sie bei uns großziehen«. Ob die anderen vor Hunger verrecken, »das interessiert mich nur soweit, als wir sie als Sklaven für unsere Kultur brauchen«.
Einst hat Göring die Rolle des Kronprinzen innegehabt, doch der Feldmarschall ist längst seiner Rauschgiftsucht verfallen. Und so wächst Himmler gemeinsam mit Speer in diese Machtlücke hinein. Als sie einmal zufällig gemeinsam bei Hitler eintreten, begrüßt sie der Diktator mit den Worten: »Ihr zwei Ebenbürtigen«.
Glaubt man Speer, versucht Himmler den Rivalen schon bald darauf umzubringen. Speer ist schwer erkrankt und liegt in einer Klinik, die Himmlers Leibarzt leitet. Angeblich will dieser einen tödlichen Eingriff vornehmen lassen. Weil ein anderer Arzt sich verweigert, kommt es dazu nicht, so Speer. Verbrecher unter sich.
Himmlers Bedeutung nimmt bald beinahe monatlich zu, denn die Rote Armee und die Westalliierten rücken näher, und im Führerhauptquartier geht die Angst um vor einer Revolution der Deutschen wie 1918. Himmlers Brutalität soll davor schützen. Goebbels notiert hoffnungsvoll: »Er wird die innere Sicherheit unter allen Umständen gewährleisten.«
Als am 20. Juli 1944 eine Gruppe um den Oberst Claus Schenk Graf von Stauffenberg ein Attentat auf Hitler verübt und sich herausstellt, dass der Chef des Ersatzheeres zu den Mitwissern zählt, beerbt Himmler diesen - obwohl es ja eigentlich seine Aufgabe gewesen wäre, ein solches Attentat zu unterbinden.
Himmler übernimmt damit sämtliche Schulen des Heeres und insgesamt zwei Millionen Soldaten. Es ist die größte militärische Formation im Reich, denn die Feldtruppen kämpfen noch außerhalb der Grenzen. Jetzt kann endgültig niemand mehr den »Führer« von innen heraus stürzen.
Ein letztes Mal erfüllt der Massenmörder die Erwartungen. Während seine Schergen die Konzentrationslager vor der Roten Armee räumen und die Häftlinge in Todesmärschen Richtung Westen treiben, befiehlt er »brutales Durchgreifen gegen jede Etappenerscheinung« und stellt im Herbst 1944 den Volkssturm auf, ein letztes Aufgebot aus Jugendlichen und Alten. Wehe demjenigen, der sich dem Wahnsinn zu entziehen sucht und von Himmlers Kettenhunden hinter der Front oder in den Straßenschluchten der Großstädte erwischt wird. In den letzten Kriegsmonaten ergehen Tausende Todesurteile. Männer hängen an den Straßenlaternen, am Hals ein Schild mit der Aufschrift »Ich bin ein Verräter«.
Himmler hat ziemlich genau die Hälfte seines 44 Jahre währenden Lebens ganz nah bei Adolf Hitler verbracht, und es gibt zu keinem Zeitpunkt einen Zweifel daran, dass er der größere Illusionist in diesem Duo infernale der Weltgeschichte ist. So bleibt es bis zum Schluss.
Der »Führer« erkennt am 22. April 1945, dass das Spiel aus ist. Die Einschläge der russischen Artillerie sind schon lange im Führerbunker unter der Reichskanzlei zu hören. Während der täglichen Lagebesprechung beginnt er zu schreien, Tränen laufen ihm übers Gesicht, mit der Faust schlägt er in die offene Hand: »Der Krieg ist verloren!«
Zu diesem Zeitpunkt träumt Himmler tatsächlich noch von einer zweiten Karriere, auf Seiten der Westmächte gegen die Sowjets. Einen Abschiedsbesuch bei seinem langjährigen Idol lehnt er mit der Begründung ab, dafür habe er keine Zeit: »Denn jetzt muss ich meine neue Regierung vorbereiten.«
Er glaubt, ohne ihn drohe in Europa ein »heilloses Durcheinander«, und prahlt, er brauche nur eine Stunde mit dem alliierten Oberbefehlshaber Dwight D. Eisenhower, dann werde dieser der gleichen Meinung sein.
Das Gespräch kommt nie zustande.
Der Massenmörder Heinrich Himmler stirbt am 23. Mai 1945 in britischer Kriegsgefangenschaft. Er beißt auf eine Zyankalikapsel, die er zwischen den Zähnen versteckt hat. Sein Leichnam wird namenlos bestattet, irgendwo in der Nähe von Lüneburg.
* Peter Longerich: »Heinrich Himmler. Biographie«. Siedler,München; 1040 Seiten; 39,95 Euro.* Oben links: Waffen-SS bei der Niederschlagung des WarschauerAufstands 1944; unten links: Deportation von Juden 1942 aus demGhetto Lodz; rechts: SS-Mord an ukrainischen Juden 1941 beiWinniza.* Am 9. November 1938 in Bielefeld.* In Lodz, mit dem Ghetto-Ältesten Mordechai Chaim Rumkowski.
RetroSearch is an open source project built by @garambo | Open a GitHub Issue
Search and Browse the WWW like it's 1997 | Search results from DuckDuckGo
HTML:
3.2
| Encoding:
UTF-8
| Version:
0.7.4